Die Hysterie
pp. 352-381
in: , Vorlesungen über Psychopathologie des Kindesalters, Berlin, Springer, 1926Abstract
Es ist noch nicht sehr lange allgemein anerkannt, daß die Hysterie im Kindesalter bei Knaben und Mädchen ohne wesentlichen Unterschied in der Beteiligung der Geschlechter in der ganzen Fülle und Mannigfaltigkeit der körperlichen und seelischen Äußerungen vor kommt, die uns von Erwachsenen, insbesondere bei Angehörigen des weibliehen Geschlechts, bekannt ist. Der 21. Februar 1888, an dem ChaRcot in seiner Dienstags Vorlesung zum ersten Male einen 14 jährigen Knaben mit großen hysterischen Anfällen vorstellte, ist in gewissem Sinne ein klassischer Tag in der Geschichte der Klinik der Kinderhysterie gewesen. Denn was Charcot und seine Schüler in seinem Namen in Dingen der Hysterie sagten, hatte damals schlechthin wissenschaftliche Geltung. Nicht als ob nicht schon früher Hysterie beim Kinde beschrieben, ihr Vorkommen auch bei Knaben behauptet worden wäre; aber es liefen so viele schlecht beglaubigte, mangelhaft untersuchte und sicher falsch diagnostizierte Fälle mit unter, daß die Berufung auf diese auch Zweifel an der Beurteilung der anderen zu erwecken geeignet war. Nun aber begann geradezu eine Hochflut von einzelnen Mitteilungen und ausführlicheren Bearbeitungen der Hysterie im Kindesalter, deren Gesamtmaterial ergibt, daß es grundsätzlich keine Erscheinungsweise der Hysterie gibt, die im Kindesalter nicht gleichfalls und dem Wesen nach in der gleichen Weise beobachtet würde wie bei Erwachsenen.